Todestag – Hintergrundgeschichte zum Buch

Im Juni 2013 fuhr ich mit dem ICE die Strecke von Hamburg nach Würzburg.

Todestag

Todestag

Ich saß neben einer Frau, mit der ich nach kurzer Zeit ins Gespräch kam. Wir unterhielten uns über Gott und die Welt. Natürlich kam dann irgendwann auch die Frage nach dem Beruflichen. Sie fragte mich, was ich denn im Berufsleben mache. Ich erzählte ihr, dass ich schreibe, und zwar meist über Tabu Themen. Unser Gespräch wurde danach immer interessanter. Ich erzählte ihr über meine Vergangenheit. Die Frau wirkt ständig verbitterter. Deshalb fragte ich nach, warum dies so sei. Sie erzählt mir eine Geschichte: Ihre Schwester Carolin sei im Alter von 37 Jahren an unheilbarem Knochenkrebs erkrankt und jetzt – drei Jahre später – sei das Endstadium erreicht. Sie habe sich für den Freitod in der Schweiz entschieden. Sie sei verheiratet und habe einen 11jährigen Sohn.
Wir sprachen sehr lange darüber, ich machte mir Gedanken und kam zu dem Entschluss, dass der Tod auch ein Tabu-Thema ist, das man verdrängt und einfach wegschiebt.

Diese Zugfahrt endete viel zu schnell, denn ich hätte mich mit meiner Mitreisenden noch ewig unterhalten können. Tage danach dachte ich immer noch über das Gespräch im Zug nach.
Ich fasste den Entschluss, mich mit dem Thema Tod/Freitod zu beschäftigen.

Mich plagt seitdem die Neugier, hinter die Fassaden der Menschen zu blicken, die bewusst und gezielt in den Tod gehen. Ich nahm deshalb Kontakt zu meiner damaligen Zugbekanntschaft auf und fragte sie über Facebook, ob Sie für mich den Kontakt zu Ihrer Schwester herstellen könne und ein Gespräch mit dieser möglich wäre. Nur wenige Stunden später schrieb mir Carolin direkt via Facebook.
Grundsätzlich, so schrieb sie, sei sie bereit, darüber zu sprechen, insbesondere über Ihre letzten Jahre.
Am folgenden Tag sprach ich das erste Mal am Telefon persönlich mit Carolin. Ich war sehr überrascht, wie offen sie sich gab, wie bewusst sie darüber sprach, an einem bestimmten Tag bewusst in den Tod zu gehen.

Ihre Beweggründe sind ganz anders, als ich es anfangs dachte. Ich glaubte, dass sie sich die Schmerzen und Qualen ersparen möchte, aber es ist ganz anders. Sie machte mir klar, dass sie diesen Weg gehen möchte, um ihrem 11jährigen Sohn und ihrem Mann den Anblick des Elends – so nannte sie es – zu ersparen.

Sie wollte ihren letzten Schritt in der Schweiz alleine gehen. Ihre beste Freundin lehnte es ab, mit Ihr zu kommen und bei Ihr zu sein, denn sie kann es einfach nicht.

Unüberlegt sagte ich damals zu ihr, dass doch ich mitkommen könne. Sie sagt spontan: „Warum nicht? Besser als alleine zu sterben.“
Mein Vorschlag war unüberlegt und dumm. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich emotional dazu in der Lage bin, beim Sterben eines Menschen dabei zu sein, nicht virtuell, sondern live und real.

Meine erste und sicher nicht letzte schlaflose Nacht folgte, denn mir wurde bewusst, was ich gerade beschlossen hatte. Ein Zurück wäre feige gewesen, denn ich hätte damit den letzten Willen eines todgeweihten Menschen abgelehnt.

So beschloss ich, die letzten Monate von Carolin festzuhalten und das Buch „Todestag“ in den letzten 12 Stunden eines Menschenlebens zu schreiben.
Ich möchte das Schreiben mit dem Exitus beenden und weder ein Pro noch ein Kontra für die aktive Sterbehilfe publizieren, sondern ausschließlich unvoreingenommen berichten. Jeder Leser soll sich nach der Veröffentlichung meines Buches sein eigenes Urteil über dieses Tabu Thema bilden.

So beginnt mein Blog,ich möchte die ersten Ereignisse meines Projektes hier im Tagebuch niederschreiben. Ob ich es schaffe oder das Projekt abbreche, kann ich zum jetzigen Zeitpunkt nicht sagen. Wir werden sehen.

Folgt mir zu einem Tabuthema, das uns alle einmal unaufhaltsam treffen wird. Ob reich oder arm, ob gesund oder krank, jeder von uns wird sterben. Wir können den Gedanken an das Sterben zwar verdrängen, aufhalten werden wir es nicht.

Ich starte auf eine ungewisse Reise mit ungewissem Ausgang …

Weitere Infos:

http://blog.tagesanzeiger.ch/hugostamm/blog/2013/10/28/macht-es-sinn-das-leben-mit-allen-mitteln-zu-verlaengern/

http://www.spiegel.de/panorama/belgien-beschliesst-aktive-sterbehilfe-fuer-minderjaehrige-a-952817.html

Schattenlicht, Teil 1

EINLEITUNG

Die Masse des Volkes war arm, sogar bettelarm an materiellen Dingen, dafür aberreich an ideellen Werten. Die Not schweißte die Familie zusammen zu einem Hort der Geborgenheit. Moral, Charakter und persönliche Entfaltung dominierten vor Egoismus. Der Gemeinschaftsgeist war so ausgeprägt, dass das gesamte Dorfetwas beisteuerte, wenn eine Familie in Not geriet. Brannte zum Beispiel ein Bauernhaus nieder, sammelten die Nachbarn nicht nur im eigenen Ort, sondern in allen umliegenden Dörfern Lebensmittel und Futtervorräte für die Geschädigten. Es war ein ungeschriebenes Gesetz, dass jede Familie tagelange Frondienste leistete, um das abgebrannte Gebäude wieder aufzubauen. Wenn eine altersschwache Kate abbrannte, lästerten Spötter oft: Die ist nicht ab-, sondern aufgebrannt!
Nur der Gemeinschaftsgeist hielt ein Dorf zusammen, es war autark. Es verwaltete sich selbst, somit kamen auch keine dirigistischen Einflüsse von außen. Die Familie war eine gesunde Zelle, das Dorf ein gesunder Zellhaufen im Staat. Diese Gesellschaftsform hatte alle Krisenzeiten in Jahrhunderten überstanden.
Der Versailler Vertrag und das Versagen der Weimarer Republik führten zu einem Chaos. Aus diesem Substrat entstand die nationalsozialistische Bewegung. Hunger, Not und Verzweiflung gaben dem Millionenheer von Arbeitslosen keine Zukunft. Die arbeitswillige Jugend klammerte sich an jeden Strohhalm, selbst wenn es nur leere Versprechungen politischer Kräfte waren. Unbeschreiblich war die Not in den Industriestädten. Mir läuft es heute noch kalt über den Rücken, wenn ich an die blassen, ausgehungerten Kinder des Ruhrgebiets denke.
Meine Aversion gegen skrupellose Macht hat mir das Leben immer schwer gemacht. Damit eckte ich an allen Enden an. Sobald ich einem Potentaten den Spiegel vor das Gesicht halte, habe ich ihn zum Todfeind. Dies ist der „rote Faden“, der sich durch alle Teile dieser Erzählung zieht. Ich bin auch rücksichtslos gegen mich. Meine Aufzeichnungen stellen keine Autobiographie im engeren Sinne dar. Die persönlichen Erlebnisse geben nur den Rahmen, der durch den zeitlichen Ablauf geordnet ist. Ich möchte einfach nur erzählen, wobei die einzelnen unbehauenen Typen die Würze in den Geschichten geben. Gerade weil wir uns von der Natur so weit entfernt haben, flechte ich immer wieder biologische Vergleiche ein. Ich will auch nicht belehren, sondern nur all denen Mut und Hoffnung machen, die im Wellental des Lebens der Verzweiflung nahe sind.

KINDHEIT

LAND UND DORF

Demjenigen, der im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts das Licht der Welt erblickte, standen turbulente Zeiten bevor. Wer von dieser meiner Generation in Ehren alt wurde, muss seinem Schöpfer danken. In Ehren alt zu, werden heißt in einer Zeit der regierenden Massenbewegung und des Mordens, sein Gewissen nicht belasten, seine eigene Persönlichkeit bewahren und zwischen Gut und Böseunterscheiden. Dafür sind und waren Askese, Selbstbeherrschung und Ehrfurcht vor der Kreatur die Grundlagen. Diese Grundelemente ethischer Begriffe konnten sich nur in einem Elternhaus entwickeln, in dem neben Geborgenheit auch Moral und einfache Frömmigkeit den Alltag prägten. Ich hatte das große Glück, in einem bäuerlichen Elternhaus aufzuwachsen, wo in harter Arbeit der kargen Scholle die Früchte der Erde abgerungen wurden. Die Freizeit bestand aus Gebet und Meditation. Meine Eltern waren nicht Erzieher, sie waren Vorbilder. Wenn man ein Jahr nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg in armselige Verhältnisse hineingeboren wurde, stand einem keine goldene Zukunft bevor.
Deutschland, mein Vaterland, lag siechend darnieder. Die Grenzen waren mit dem Blut der Soldaten getränkt. Wenn bei uns in der schwäbisch-bayerischen Hochebene der milde Westwind wehte, brachte er noch den Geruch verwesender Soldatenleiber aus Frankreich mit.
Diese Hochebene ist ein raues Land. Im Süden halten die Allgäuer Alpen die milden Südwinde ab; nur hin und wieder dringt der warme Föhn über die hohen Bergketten. Dann wechselt eisiger Frost über Nacht mit milder Luft aus dem Süden. Hart und rau ist nicht nur unser Klima; rau und herzlich ist auch dieser keltische Menschenschlag.
Geologisch ist unsere Landschaft geprägt vom Gebirge. Riesige Gletscher wälzten sich vor Jahrmillionen vom Faltengebirge der Alpen nordwärts zur Donau. Sie schufen unsere Täler, weite Täler, schmale Täler, kleine Schluchten, die sich nach Norden verbreitern und im Donauried verflachen. Jedes Tal von der Iller bis zum Lech hat sein eigenes Gepräge, seinen eigenen Fluss oder Bach oder sein eigenes Rinnsal. Im Süden, dem Alpenvorland, stehen die Bauernhöfe wie Burgen auf den Anhöhen. Saftiges Weideland ernährt braune Kühe. Der Allgäuer Menschenschlag ist gemütlich, wortkarg und von geruhsamer Bedächtigkeit, denn reine Grünlandwirtschaft ist weniger arbeitsintensiv.
Je weiter es ins Unterland geht, desto größer werden die Dörfer, desto abwechslungsreicher wird die Vegetation, umso intensiver die Landwirtschaft. In den Tälern hat man Wiesen, auf den Hügeln Ackerland, unterbrochen von herrlichen Wäldern. Hier gibt es für die Bauern keine Ruhepausen. Frühjahrssaat, Heu- und Getreideernte, Kartoffelernte, Waldarbeit. Das folgt drängend auf das andere. Hier im Unterland muss jeder arbeiten, sogar Kinder und Alte. Selbst das kleinste Rinnsal ist eingespannt in den Arbeitsprozess.
Schon tausend Schritte südlich meines Dorfes Balzhausen wird die quicklebendige Hasel gebändigt. Ein Holzwehr versperrt ihren Lauf, ihr Wasser wird in einen engen Kanal gepresst, wo es ein riesiges Wasserrad treiben muss, dessen Kraft mit Transmissionen auf die vertikal schwingenden Sägegatter übertragen wird. Baumstämme der umliegenden Wälder werden scharfkantig zu Balken, Brettern und Latten geschnitten. Das der Kraft beraubte Wasser erholt sich im ausgeaperten Gumpen, kreist ein paar Mal schäumend, bis es ruhelos weiterfließt und neue Kräfte schöpft. Schon am Südrand des Dorfes wartet der alte Müller Karl. Gemächlich treibt er die Fallen runter, damit die Mühlsteine seiner alten Klappermühle angetrieben werden.
Der Mühlgumpen mit seinen alten Erlen ist Tummelplatz des Dorfes. Enten und Gänse streiten und lieben sich. Kinder baden. An lauen Sommerabenden waschen Bauernknechte ihre Ackergäule von Kopf bis Fuß. Anschließend durften wir Kinder durch die Schwemme reiten. Es war aufregend, wenn das Pferd den Boden unter den Füßen verlor und in Panik seinen Kopf über Wasser hielt und seine Nüstern blähte. Wie oft ist es vorgekommen, dass ein Pferd scheute, den Reiter abwarf, sich an der ausgefransten Böschung hoch strampelte, durchs Erlengebüsch zwängte, bis es wieder festen Boden unter den Beinen hatte und im Galopp durch die Dorfstraße zum heimatlichen Stall preschte, eine Staubwolke hinter sich lassend.
Außerhalb des Dorfes war der Bach frei. Er schlängelte sich durch Wiesen und Auen, mal schmal, mal breit, mal seicht, mal tief. Wenn es ihm unter schattigen Erlen oder buschigen Weiden gut gefiel, verweilte er in tiefen Gumpen. Die Zeit war für ihn kein Begriff. Nur das Gefälle, die Schwerkraft, beflügelte sein Temperament. Mochte er sein altes Bett nicht mehr, suchte er sich einen neuen Lauf. Niemand steckte ihn in eine Zwangsjacke. Seine Nährväter waren Regen und Schnee. Wenn er wild und wütend war, verweigerte er jede Arbeit. Er überschwemmte Wiesen und Felder, und wenn ihm Müller und Säger seinen Lauf nicht freigaben, zerriss er Wehre und Böschungen. Ein Abglanz der Urkraft der Naturgewalten.
Nach dem Mühlgumpen, innerhalb des Dorfes, musste er sich schwäbischer Ordnung fügen. Schnurgerade, mit gleichmäßigem Gefälle gezirkelte Uferböschungen bestimmten seinen Lauf. Hatte er einmal mehr Wasser, wurdedies am Ablass ins kleine Bächle geleitet. Die untere Kunstmühle mit ihrem Betonwehr und einer hochmodernen Turbine zeigte ihm die Macht der Technik, an der er sich nicht mehr vorbeimogeln konnte. Sanft und willenlos floss er vorbei an Häusern und Hausgärten. Mächtige Erlen säumten seinen Lauf, ihre roten Wurzelbüschel sicherten die Ufer. Unterspülte er einmal einen altersschwachen Baum, wurde die Böschung mit Faschinen – Weidenbündeln – wieder geflickt.Wer wollte schon einen Meter Gartenland freiwillig hergeben?
Jedes angrenzende Haus hatte am Bach sein Bänkchen, ein etwa ein Quadratmeter großes Holzpodium, das vom Ufer wenige Zentimeter über dem Wasser in den Bach ragte. Hier herrschte immer rege Betriebsamkeit. Man holte Gießwasser für den Garten, für die Viehtränke, zum Kartoffelwaschen. Kam man an Regentagen mit lehmverschmierten Schuhen heim, streckte man einen Fuß nach dem anderen ins Wasser und säuberte mit einem Reisigbesen die Schuhe. Meine Mutter kniete manche Stunde auf dem Bänkchen, neben sich eine große Zinkwanne, in der die Wäsche mit Soda eingeweicht, mit Schmierseife gewaschen und anschließend im Bach gespült wurde. Nahezu alle im Dorf kam mit der großen Wäsche an den Bach.
Was das spärliche Waschmittel und der Bach nicht schafften, vollendete die Sonnenbleiche. Schon zu Zeiten meiner Mutter war weiße Wäsche der Gradmesser für die Fähigkeiten einer. Hausfrau. Das bisschen Seife und Pottasche hat der Bach schadlos verdaut. Deswegen konnten wir Kinder gefahrlos ober- und unterhalb der Waschstellen Bachwasser trinken. Die direkten Angrenzer entledigten sich ihrer kleineren Schlachtabfälle von Hasen und Hühnern meist auf die gleiche Weise. Forellen und Hechte rissen sich darum. Wenn mal tote Ferkel oder sonstiges Kleingetier am Mühlrechen angeschwemmt wurden, schimpfte zwar der Knecht, gab aber hinter dem Rechen die unliebsame Fracht dem Bach wieder zurück. Bis zum nächsten Müller war sie eine willkommene Beute von Wasserratten, die auch eine sanierende Funktion am Bach haben.
Im Dorf wie in der Familie war alles so einfach. Wer zur Feldarbeit fähig war, bemühte sich ums tägliche Brot. Kinder und Alte versorgten Hof und Haushalt,jeder wurde gebraucht, niemand war überflüssig. Gebrechliche Alte saßen vor ihrem Austragsstübchen, wiegten den Kinderwagen oder strickten. Alles wurde weiterverwendet, selbst zerschlissene Stoffreste wurden zu schmalen Streifen zusammengenäht, zu großen Knäueln aufgewickelt und zu einem Weber in der Nachbargemeinde gebracht, der in den Wintermonaten bunte Fleckerlesteppiche knüpfte, schmucke Bodenbeläge für die „gute Stube.“
Leider hatte ich keine Großeltern am Hof. Deshalb hatten wir Kinder noch mehr Arbeit, noch mehr Verantwortung. Kartoffeln für die tägliche Schweinefütterungwaschen, spülen, den Hof kehren, die Hühner füttern, Schuhe putzen und dabei noch Kindsmagd machen bei meiner kleinen Schwester. Wehe, wenn nicht alles sorgfältig getan wurde. Meine Mutter forderte mich erbarmungslos. Obwohl wir in den Sommermonaten schon um 12 Uhr die Schule verließen, blieb nicht mehr viel Freizeit. Bummeln bei der Arbeit war da nicht mehr drin. Wer als Kind die leichten, doch umfangreichen Arbeiten bewältigen muss, wird zeitlebens die Arbeit der Hausfrau respektieren.
Wie sah das Dorf meiner Kindheit aus?
In der Mitte stand die alles überragende Kirche mit ihrem Zwiebelturm, Zeichen bäuerlicher Frömmigkeit und barocker Lebensfreude – die Seele des Ortes. Hoch auf der Turmspitze ein goldener Wetterhahn als Filigranarbeit handwerklicher Schmiedekunst, Symbol des Lebens, der Fruchtbarkeit, Schutz vor Feuersbrunst und Blitzschlag. Seine Farbnuancen wechselte er mit dem Wetter. Glänzte er golden, prophezeite er beständiges gutes Wetter. War seine Farbe stumpf und matt, ist Regen im Anzug. Alte Erzählungen berichteten, dass der bayerische Hiasl sich erdreistet hatte, vom Dorfrand aus den Hahn abzuschießen. Auf alle Fälle zeugteein Durchschuss von einem Attentat auf ihn.
Als Hof des Friedens umlagerten Gräber die herrliche Kirche. Eine hohe Mauer schirmte die Toten von der Straße, von der Hektik des Alltags ab. Eine Straßenseite daneben Schulhaus und Pfarrhof: Bildungszentrum und geistige Führung, Gehirn des Dorfes. Einen Steinwurf entfernt im Osten Brauerei und Gasthof „Krone“, im Süden Gasthof „Adler“, im Westen das „Deutsche Haus.“ Weit ausladende schmiedeeiserne Symbole reichten von den Giebelwänden bis in die Straße. Ein Hauch von Tradition. Ein nahtloser Übergang von geistiger Erbauung zu weltlichen Genüssen. Alles, was die Kirche an Sakramenten spendete, von der Taufe bis zur Beerdigung, wurde im weltlichen Bereich besiegelt. Eine geharnischte Sonntagspredigt war im Dunst von Rauch und Bier sehr schnell verdaut. Nach einer qualvollen Osterbeichte löste erst der Alkohol die Zungen.
Nur eine Handvoll Großbauern waren entlang der Dorfstraße verstreut. Dazwischen duckten sich bescheidene Söldnerhäuser. Mehr als einen Kilometermusste man gehen, um das Dorf von Süden nach Norden zu durchqueren. Zwischen Dorfstraße und Bach siedelte der Rest der Kleinbauern. Sonst waren es meist große gepflegte Häuser, zweistöckig, weiß getüncht mit grünen Fensterläden. Die Fenster waren klein und zahlreich. Jeder Flügel war noch gevierteilt mit kleinen Sprossen. Steile Giebel, die mit einem schmalen Gesimse knapp am Mauerwerk endeten. Jedes Gehöft hatte Hofraum, Garten und Blumenrabatte. In irgendeiner Ecke stand ein mickriges Austragsstübchen, wo die Alten auf den Tod warten.
Die Bauernhäuser waren groß und geräumig, der Giebel zeigte jeweils zur Straßenseite. Eine massive Haustür führte in den Gang, der sich quer durch das Gebäude bis zum hinteren Ausgang erstreckte. Neben der Haustür ein kleines Guckfenster, die einzige Lichtquelle für den Hausgang. Rechts des Flurs die „gute Stube“, dahinter die Küche, die im Sommer auch als Wohnraum diente. Links des Flurs eine massive Holztreppe, die in vielen Stufen zu den Kammern, den Schlafräumen führte. Hinter der Treppe die Stalltüre, das Bindeglied zwischen Menschen und Tieren. Vom oberen Gang, Sohler genannt, ging noch eine Treppe zum Dachboden, wo das Korn in Dauten gelagert wurde, Bretterabgrenzungen für Weizen, Roggen, Hafer und Gerste.
Im Pfründehaus beschauliche Stille, auf dem Bauernhof pulsierendes Leben:gackernde Hühner, muhende Kühe, tobende Kinder, drei Generationen in einer Gemeinschaft, alle aufeinander angewiesen, vom werdenden Leben bis zum siechenden Ende.
Für die Kleinhäusler war es ein ehernes Gesetz: Früh heiraten, damit man bald Kinder zur Arbeit hat, wenn die Alten nicht mehr helfen können. Für die Bauern erübrigte sich diese Einstellung, denn sie hatten Knechte und Mägde und warenauf Kinderarbeit nicht angewiesen. Deshalb die logische Folgerung: Je größer der Bauer, desto kleiner die Kinderschar, je kleiner der Bauer, desto größer die Zahl der Nachkommen.

Jedes Lebewesen braucht zu seiner Entwicklung Ruhe, Zeit und Geborgenheit. Wogab es diese Voraussetzungen besser als in der Landwirtschaft. Wenn der Acker durch Düngen, Pflügen, Eggen und Graben auch noch so sehr strapaziert wurde, betrat ihn doch keiner mehr, sobald die Saat in die schützende Erde eingelegt war. Saat und Unkraut keimten und wuchsen in einer Gemeinschaft. Erst wenn das Getreide kniehoch stand, begann das Jäten, eine mühsame Arbeit. Es war keine Vernichtungsaktion, sondern eine selektive Auslese. Disteln, großblättriger Sauerampfer, Ackerwinden und alle rücksichtslosen Senkrechtstarter, die das Getreide überragten, ihm Licht, Kraft und Nahrung nahmen, wurden ausgerissen, ausgestochen. Für mich war es immer eine Genugtuung, wenn ich eine ausgestochene Distel am Ackerrain liegen sah, kraftlos, welkend, sterbend. „Freund, du kannst mich bei der Getreideernte nicht mehr stechen.“ All die bescheidenen Bodendecker wie Stiefmütterchen, Vogelmiere und Veronica, die im Schatten des Getreidefeldes dahinvegetierten, wurden wohlwollend in der Lebensgemeinschaft belassen.
Nicht nur die Pflanzen, auch die Tiere lebten ohne Leistungsdruck in Ruhe und Freiheit, eingebunden in die Lebensgemeinschaft Bauernhof. Betrachten wir das bunte Volk von Hühnern: Rote, Gelbe, Weiße, Schwarze, Geperlte. Ein vielfältiges Rassengemisch lebte in Eintracht miteinander. Weiße Hampshire, braune Rhodeländer, gelbe Italiener, exotische Perlhühner, selbst Zwerghühner wurden geduldet.
Jede Rasse hat ihren eigenen Charakter. Die quicklebendigen Hampshire legen am meisten im Winter, die Italiener sind fleißig und legen im Sommer viele Eier. Die Rhodeländer, phlegmatische Fetthennen, bringen wenige dunkelbraune Eier, dafür sind sie im Suppentopf begehrt. Die schwarzen Deutschen Legehühner sind die dankbarsten Eierproduzenten, sogar während der Mauserzeit; dafür sind sie sehr streitsüchtig und rechthaberisch.
Nur durch die Vielfalt dieser Rassen hatten wir das ganze Jahr hindurch genug Eier. Ja, meine Mutter verkaufte sogar noch jede Woche beträchtliche Mengen an die Eierfrau, die jede Woche mit ihrem Weidenkorb zum Sammeln kam.
Das Volk der Hühner ist ein vorbildlicher Sozialstaat, in dem trotz vieler Rassen bei unbegrenzter Freiheit Disziplin und Ordnung herrschen. Bei meiner Mutter waren es immer etwa drei Dutzend Hennen, die von einem Hahn, einem farbenprächtigen „Italiener“ betreut wurden. Seine majestätische Größe, sein farbenprächtiges Federkleid und sein großer scharf geschnittener Kamm waren Ausdruck königlicher Würde. Dieser potente Kraftprotz führte ein strenges Kommando. Jedes Huhn buhlte um seine Gunst. Er war nicht nur Herrscher, er opferte sich auch für seine Hühner mit bewundernswerter Hingabe. Den Tag kündete er mit einem kräftigen Kikeriki an, laut, monoton, ausdauernd, bis der Hof erwachte, bis der Hahn des Nachbarn antwortete. Die Hühner waren das freieste Volk der domestizierten Tierwelt. Sie tummelten sich in Stall und Stadel, in Hof und Garten. Niemand konnte diesem Volk Einhalt gebieten. Selbst ins frisch gesäte Gärtle, ins Heiligtum der Hausfrau also, pfluderten sie unbekümmert und scharrten alles kaputt, was mühsam gesät worden war.
Auf dem Misthaufen waren sie zu Hause. Als Resteverwerter und Endverbraucher pickten sie alles auf, was Kühe und Schweine nicht mehr verwerten konnten. Selbst aus den Kuhfladen versorgten sie sich mit dem lebenswichtigen Vitamin B 12. Die Forscher haben Jahrzehnte gebraucht, um diesen Stoff zu finden, Hühner nutzen ihn instinktiv. Im Garten fraßen sie die jungen Keimlinge, die zarten Gräser, Vitaminbomben (Vitamin C, E, A, Carotin). Lukullische Leckerbissen wie Schnecken, Regenwürmer, Käfer, Raupen und Maden, einfach alles, was da kreuchte und fleuchte, stand auf ihrem Speisezettel. Wurde im Garten irgendwie gegraben, war die ganze Hühnerschar zugegen. Engerlinge und Würmer erspähten sie mit einer erstaunlichen Sicherheit. Mit ihren scharfen Krallen zermalmten sie die härteste Scholle, ihnen entging kein Kerbtier. Wunder der Natur – eines lebt vom anderen. Unsere Hühner waren so frech, dass sie meiner kleinen Schwester oft ihr Butterbrot aus den Händen hackten. Selbst Sandkörner pickten sie auf, um ihren Magen mit diesen Mahlwerkzeugen zu entlasten.
Was Ernährungswissenschaftler erforschten, ist „kalter Kaffee.“ Die Hühner haben es schon vor Generationen praktiziert. Ihre Produkte waren und sind ein Lebenselixier. Sind wir denn so arrogant, dass wir die Geheimnisse der Kreatur ignorieren? Ich glaube, die chinesische Küche hat vom Speisezettel der Hühner am meisten übernommen.
Wer hat schon eine verlorene Hühnerfeder beachtet, wenn der Wind mit ihr spieltund schwerelos in eine Ecke treibt? Stare und Spatzen verwenden sie zur Auspolsterung ihrer Nester. Wer hat schon nachgedacht über die Farbpigmente einer solchen Feder? Hochmolekulare Pterine, die zur Verwandtschaft der Sexualhormone und der Antibabypille zählen. Sind es nicht Hühner, die das Bindeglied zwischen Reptilien und Säugetieren darstellen? Sie haben einen langen Weg in der Evolution des Lebens hinter sich.
Das Volk der Hühner ist also ein idealer Sozialstaat, der sich freiwillig der Obhut eines Paschas unterwirft. Der Hahn ist nicht nur Herrscher, sondern mehr treusorgender Vater. Mit ihm steigt und fällt dieses Volk. Er ist eine stolze Erscheinung, überragt die Hennen um Haupteslänge, kraftvoll, würdig, selbstbewusst. Sein Federkleid fließt golden, schwarz und purpur vom Kopf bis zum weit ausladenden Schwanzende. Sein roter Kamm repräsentiert Macht und Würde. Ob im Hof, Garten oder Misthaufen, er befindet sich immer auf der höchsten Stelle; mit Argusaugen überwacht er seine Schar.
Unser Hof am Rande des Dorfes war eingebunden in die Wiesen des Tales. Wenn vom nahen Eichbühl ein Greifvogel in den Lüften segelte, schlug er Alarm, bis die letzte Henne unter Hecken, Bäumen oder Wagen ihr schützendes Revier erreicht hatte. Todesmutig stellte er sich jedem Angreifer. Wenn wir Kinder mal eine Henne jagten, sprang er dazwischen. Seinen kräftigen Flügelschlägen und seinem scharfen Schnabel mussten auch wir weichen. Er achtete darauf, dass seine Hühner nicht in Nachbarrevieren streunten, und duldete keinen Nebenbuhler. Kam irgendein verscheuchter Gockel daher, verjagte er ihn unerbittlich. Hier gibt es unter Herrschern keine Freundschaft.
Fand er eine fette Beute, lockte er solange, bis die Hühner ankamen und sie verzehrten. Obwohl ihm manchmal das Wasser im Mund zusammenlief, stand er hungrig daneben. Unser Gockelhahn war auch gerecht. Er behandelte alle Hühner gleich, ob farbig oder grau, ob klein oder groß. Von seiner Potenz hing es ab, ob die Eier befruchtet oder lauter waren. Bei soviel väterlicher Fürsorge war es verständlich, dass sich ihm das Hühnervolk freiwillig unterwarf, dass jede Henne seine Gunst suchte. Welche Charaktereigenschaften sind doch im Genmuster eines solchen Federviehs verankert!
Wenn ich abends die schweren Mistkarren über den Hof fuhr und mich plagenmusste, beneidete ich oft die Hühner, die in der Holunderstaude träumten oder imSand buddelten. Wie oft dachte ich so vor mich hin: Ach, wärst du doch ein Huhn geworden. Die Hühner hatten im Kuhstall einen Lattenverschlag mit Sitzstangen. Ein Loch ebenerdig ins Freie durch das Mauerwerk war ihr Auslauf. Im Winter drängten sie sich zum Schlafen in den Stall. In lauen Sommernächten übernachteten sie romantisch in der Holunderstaude – herrliche Freiheit!

Eine Bauerngeneration später wird alles anders sein:
Die Hühner werden auf dem Hof ausgerottet. Wissenschaftliche Begründung: Sie sind Überträger von Tuberkelbazillen bei Rindern. Ökonomisches Argument: Sie sind nutzloses Federvieh. Die Folge: Arbeitsvereinfachung und Monokultur. Moralischer Erfolg: Der Bauernhof ist um ein Glied in der Lebensgemeinschaft ärmer geworden. Das Schicksal der Hühner: Sie wurden von Individualisten zu eingesperrten Strafgefangenen.
Das Geschlecht der Kugelmann ist mit dem Tod des ledigen Karl ausgestorben, die alte Mühle zerfallen, abgebrannt und es gibt Platz für ein modernes Wohnhaus. Das Wehr ist geborsten, der Gumpen verödet. Der Tummelplatz meiner Kindheit ist tot. Graues Wasser trägt lustlos seine chemische Fracht des Wohlstands zur Donau. Wo Forellen und Äschen nach Mücken hüpften, treiben Plastiktüten und Kunstdüngersäcke. Der große Kuhstall der Mühle, wo früher wilde braune Kühe wohnten und den ganzen Sommer auf den angrenzenden Wiesen weideten, ist umgebaut. Ein grauer fensterloser Koloss beherbergt eine Hühnerfarm. Tausende von weißen hochgezüchteten Hybriden dösen im Dunkeln bewegungslos vor sich hin, haben gerade noch soviel Kraft, um vom Futterband ihre Mastnahrung zu picken. Das monotone Summen eines Ventilators zieht penetrant stinkende Luft ins Freie. Nach ein paar Monaten endet das Martyrium im Schlachthaus. Versagt vorher die Technik, geht ein Kadaverberg zur Tierkörperverwertung Mindelheim.
Ich möchte kein Huhn mehr sein!

Ruhe und Zeit wurden dem keimenden Korn bis zur Reife gegeben. Es musste weder Spritzmittel noch mästenden Kunstdünger verdauen. Nestwärme und freien Auslauf ohne Leistungsdruck durch Kraftfutter erlaubte man den Hühnern. Genauso erfolgte die Aufzucht der Kinder. Schon die Geburt ging ohne große Umstände vor sich. Wenn die Mutter plötzlich fehlte, konnte mein Vater so nebenbei sagen: „Kinder, seid nicht so laut, die Mutter liegt im Bett, ihr ist nicht ganz gut.“ Uhls Hebamme, die gleich in der Nachbarschaft wohnte, kam sie besuchen, eine ausgefranste Tasche im Arm. Fremder Lysolgeruch durchströmte das ganze Haus. Hörte man dann ein helles Kinderschreien, so kam der Vater: „Kinder, der Storch hat ein kleines Brüderle gebracht.“ Wir gaben uns damit zufrieden. Eine Geburt war nichts Außergewöhnliches, sie wiederholte sich fast jedes Jahr, wie Frühling und Herbst. Ein Tribut frommen Gehorsams.
In den folgenden Wochen besuchten uns die Nachbarsfrauen. Sie kamen zum Kindbettschenken. Obligatorisch waren eine Mark oder ein Kinderjäckchen. Meistens konnte sich meine Mutter noch im gleichen Jahr revanchieren. Nach ein paar Wochen kamen die Basen aus Mindelzell und Thannhausen zur sonntäglichen Taufe. Sie waren bei allen Kindern die Taufpaten – das Dotle. Bei meinen jüngeren Geschwistern habe ich diese Zeremonie miterlebt. Allerdings interessierten mich nur das gute Essen und die Bonbons.
War die Taufe im Sommer, so blieb die Mutter einige Wochen daheim beim Kind. Später wurde der Säugling mir anvertraut. Es gab eine genaue Anweisung: Die Milch abkochen, in die Flasche gießen und solange die Flasche in kühles Wasser halten, bis sie handwarm ist. Windeln zum Wickeln lagen genug bereit. Mutter ging ja nur am Nachmittag für einige Stunden aufs Feld.
Sobald die Mutter fort war, störte mich das Schreien des Säuglings nicht mehr. Aber kurz vor ihrer Rückkehr umsorgte ich ihn, gab ihm den Schnuller, bei uns Zapfen genannt, legte ihn trocken und schaukelte die große Kinderchaise, nur damit sie ihn friedlich antraf. Denn sonst wäre eine Missstimmung aufgekommen, die mir selten gut bekam. Eine Bauersfrau mit einer Schar kleiner Kinder hatte schon Unmenschliches zu leisten. Feld-, Stall- und Hausarbeit und dann noch Kinder versorgen. Meine Mutter war zudem noch sehr akkurat. Es türmten sich oft Berge von Wäsche. Ich hörte meinen Vater beim Morgenessen oft fragen: „Mutter, du bist ja heut gar nicht im Bett gwesa?“ „Ach, i hab aufm Kanapee a bissleknoarat (gedöst).“ Schlimm war es in einem eisigen Winter. Die gute Stube war ein Krankenlager für vier Kinder. Keuchhusten und Lungenentzündung. Selbst der Arzt war hilflos. Diese Erstickungsanfälle, begleitet von hohem Fieber brachten Mutter und Kinder zur Verzweiflung. Ich als Ältester bekam am meisten mit. Meine Mutter kam über einen Monat nicht aus ihren Kleidern, denn mein Vater war in der Krankenpflege ungelenk.
Wie oft sprang meine Mutter mitten in der Nacht zur Stubentür hinaus und schrie markerschütternd: „Vater, komm schnell, der Ulrich erstickt!“ Oder: „Schnell, der Wilhelm erstickt.“ Es waren meine zwei jüngsten Brüder. Ich sah die blauen Gesichter nach Luft ringen. Tag für Tag, Woche für Woche das gleiche Martyrium und keine Besserung. In einer Woche starb Ulrich, in der nächsten Wilhelm. Tränen – Schmerzen – Verzweiflung. Der Mailingerschreiner brachte jeweils ein weißes Särgchen, man legte es mit dem Kind in den Sohler, nach drei Tagen kam der Totengräber, nahm es unter den Arm und brachte es zur Beerdigung auf den Friedhof, denn ein Leichenhaus kannten wir nicht. Ein frostiger Winter – ein großes Kindersterben. Kurz waren die Freuden der Taufe, lang die Schmerzen der Trauer!

Viele Monate herrschten Totenstille, Niedergeschlagenheit und Kummer im Haus. Wir Kinder waren brav, folgsam wie noch nie. Wenn meine Mutter abends am Tisch saß und versonnen strickte, brach sie plötzlich in Tränen aus: „Zwei Buben auf einmal!“ Mein Vater legte wortlos sein Buch beiseite, weil seine Augen wässrig waren. Wir Kinder weinten mit. Bei jedem Abendgebet wurden die beiden toten Brüder mit eingeschlossen. Meine Schwester Hedwig, die schon seit Jahren bei Bauern diente, kam am Sonntagnachmittag mit ihren Freundinnen, denn unser Haus war für sie die einzige Begegnungsstätte, „Heimgarten.“ Die sonst kichernden lebenslustigen Mädchen waren ernst und bedrückt. Wo früher Dorfneuigkeiten und Klatsch die Unterhaltung gewürzt hatten, kreiste jetzt das Gespräch um die verstorbenen Kinder. Wie nett sie gewesen waren, welche blauenAugen sie gehabt hatten usw.
Wenn meine Mutter am Bach Wäsche schrubbte, kam die Mailingerin, ansonsten eine derbe Frau, und tröstete sie: „Schau Marie, die Kinder sind im Himmel, des sind Engela; wer weiß, was sie hättat no mitmacha müssa, mir gehat sowieo schlechte Zeiten entgegen. Aber gelt, wenn ma’s amaul hat, dann will ma’s nimmer hergeba. Dr liabe Gott wird scho gwisst hau, warum er’s gholt hat.“Anteilnahme und frommes Gottvertrauen linderten solche Schicksalsschläge. Unser Dorf war abgekapselt von der Außenwelt, ohne die Ablenkung durch öffentliche Medien. Da schwangen die Wellen des Schmerzes sehr lange, bis sie von der Zeit geschluckt wurden.
Das Sterben meiner Brüder hat sich in meinem Gehirn so plastisch eingeprägt,dass ich es auch heute noch in allen Einzelheiten wiedergeben könnte.
Es war kurz vor der beginnenden Schulzeit. In der Schule gab es keinen Leistungsdruck. Ich hatte Freude am Lernen. Unsere Lehrerin, Fräulein Frei, konnte so herrliche Märchen erzählen wie „Schneewittchen“ oder „Aschenputtel“ und viele andere. Ich erlebte sie wirklich. Meine Phantasie, meine Träume hatten keine Grenzen. Mit der Begeisterung eines Kindes erzählte ich diese Phantasie-Erlebnisse mit eigenen Worten der Stegnäherin, den Mädchen vom „Heimgarten“, den Nachbarn. Alle hörten mir zu, alle amüsierten sich über meine Wiedergabe. Ich freute mich und war stolz. Daheim hatte ich ja so etwas noch nie gehört. Wir kannten weder Spielzeug noch Märchen. Unsere Welt war Wasser und Sand, Hausarbeit und Tiere.

In meiner gesamten Schulzeit störte mich am meisten die Akkuratesse meiner Mutter. Das begann schon mit dem Wecken während der Stallarbeit. Meine Mutter war beim Melken. Jedes Mal, wenn sie einen Kübel Milch in den Hausgang trug und in die Milchkanne schüttete, rief sie: „Aufstehen, ihr müsst in die Kirche!“ Ich hörte es zwar im Unterbewusstsein, die mollige Wärme meines Strohsacks und dicken Federbetts machte mich willenlos. Meine zwei Brüder, die neben mir schliefen, waren beim ersten Ruf sprungbereit.
Es dauerte eine Weile. „Ist der Hais noch nicht auf?“ Der Ruf wurde heftiger: „Stehst du jetzt auf, man läutet schon gleich!“ Der dritte Ruf gab viel Ärger. Dieser Ritus wiederholte sich tagtäglich. Anziehen und Waschen gingen zwar schnell, befriedigten meine Mutter aber nie. „Du hast deinen Hals nicht sauber gemacht, schau deine schwarzen Fingernägel an, an deiner Hose sind noch Dreckspritzer“ … Solche Mängel gab es bei meinen Geschwistern nie. Von der Schule kamen keine Reklamationen, ich erhielt viele Fleißbildchen und war mindestens so gut wie meine Geschwister. Das war nicht selbstverständlich. So verschieden die einzelnen Familien waren, so differenziert war auch das Interesse der Schüler. Meine Nachbarn, der Stapf Ludwig oder der Schedel Hermann haben die meiste Zeit Karten gespielt und unter der Schulbank mit allerlei Kram geschachert – zum Leidwesen der Lehrerin.

In der zweiten Klasse suchte sich der Herr Pfarrer Mack einige Ministranten aus. Er hatte bestimmte Kriterien. Der Junge musste aus einer frommen, sauberen Familie sein, er musste pünktlich zum Läuten kommen und gut lernen, damit er die lateinischen Responsorien bald auswendig konnte. Dank der Vorschusslorbeerenmeiner schulentlassenen Brüder fiel die Wahl auf mich, zum Stolz meiner ehrgeizigen Mutter, zur Befriedigung meines frommen Vaters.
Wie sah unsere Schule aus? Ebenerdig ein großes Klassenzimmer, vorne zwei große schwarze Tafeln, die mit Kreide beschrieben wurden, daneben ein Pult. In der Mitte ein Gang, rechts und links davon lange Holzbänke mit Klappsitzen. In den Bänken waren offene Tintengläser untergebracht, die man mit einem Blechdeckel zuklappen konnte. Wir waren immer etwa 40 bis 50 Schüler in den insgesamt drei Klassen. Fräulein Frei, schmal und schlank, jung mit schönen roten Lippen, saß selten an ihrem Pult, sondern meistens auf der Kante der ersten Bank. Auf einer Seite die Mädchen, auf der anderen die Buben, die Sitzverteilung erfolgte nach der Größe. Unsere Schulutensilien waren dürftig: eine Schiefertafel mit Griffel, ein Lese- und ein Rechenbuch.
Die Lehrerin war ganz anders als die Bauersfrauen. Sie hatte lange, silberglänzende Fingernägel, die schimmerten wie die Perlmuttknöpfe an der Bluse meiner Mutter. Die Haare waren sehr lang und rötlich. Mir hat dies alles gut gefallen. Ich musste ihr immer noch das Zimmer aufräumen und Botengänge machen. Sie wohnte in der Schule ganz oben unter dem Dach. Fräulein Frei hat unsere Sprache nicht verstanden. Man sagte, sie sei aus der Stadt. Als Stapfa Ludwig aufstand und sagte „Freile, ich muss seucha“, fragte sie zurück, was das bedeuten solle. Wir antworteten hilfreich: „Das heißt biesla.“ Sie verlangte, dasswir fragten: „Bitte, darf ich austreten?.“ Stapfa Ludwig wollte es nicht begreifen. Zur Strafe musste er sich wieder hinsetzen. Nach einer Weile meldete sich sein Nachbar: „Freilein, dr Lugge haut neigseucht.“ Sie wurde hochrot. Ludwig musste einen Putzlappen holen und aufwischen. Ludwig besaß weder Leistungsdrang noch Interesse am Unterricht; weil er trotz Mahnungen nicht aufgepasst hatte,musste er vor der Schultür auf dem Gang stehen, die härteste Strafe. Nach geraumer Zeit wollte sie ihn wieder hereinholen. Ludwig war verschwunden, nach Hause gegangen. Es dauerte Tage, bis er wieder zum Unterricht erschien.
Ein anderes Mal ließ einer mehrere Feldmäuse laufen, die er am Tag vorher beim Kühehüten gesammelt hatte. Plötzlich schrie ein Mädchen: „Fräulein, eine Maus, eine Maus!“ Es zeigten sich noch mehrere Tierchen, niemand wusste, woher sie kamen. Das Fräulein wurde blass vor Angst und rannte Hilfe suchend zum alten Lehrer Kohl in die obere Klasse. Dieser kam gelassen ins Zimmer und sorgte dafür, dass die Mäuse wieder eingefangen wurden. Wer sie mitgebracht hatte, konnte jedoch auch er nicht ermitteln.
Am meisten Abwechslung boten Gessels Zwillinge. Sie glichen einander wie ein Ei dem anderen und sorgten immer wieder für Überraschungen. Sie waren die Clowns der Schule, witzig und ideenreich. Eine Schönschreibübung wurde abgehalten. Fein säuberlich trugen wir den Text von der Wandtafel in unser Heft ein. Die beiden feixten wie üblich. Der eine blies in sein offenes Tintenfass, reaktionsschnell blies der andere noch schneller in seines. Treuherzig schauten beide aus ihren blau gesprenkelten Gesichtern, Heft und Umgebung sahen ähnlich aus.
DER ERSTE RAUSCH

Dank meiner gestrengen Mutter konnte ich mir nichts erlauben. Die geringste Reklamation vonseiten der Lehrerin hätte mir auch zu Hause eine harte Strafe eingebracht. Relativ gesehen war ich unter diesem ungehobelten Volk einer der bravsten Schüler. Und doch ist mir einmal etwas ganz Schreckliches passiert, eine Schande für die ganze Familie.
Es war Frühjahr, die Winterschule dauerte noch bis 16 Uhr. Ich war schon länger Ministrant, andächtig und gewissenhaft. Der strenge Pfarrer Mack war mit mir sehr zufrieden. Darauf war meine Mutter besonders stolz, denn daheim hatte sie mit mir andere Erfahrungen gemacht. Es war die Zeit, in der der Tod so manchen alten Pfründner aus seinem Austragsstübchen holte. Nicht der Arzt, der Pfarrer war Beistand Sterbender. Es verging kaum ein Tag, an dem der Herr Pfarrer nicht zu einem Schwerkranken geholt wurde. Zur „Versehung“, Spendung der „Heiligen Kommunion“ und letzten Ölung. Ich assistierte. Der Herr Pfarrer in Chorrock und Stola mit dem „Allerheiligsten“, ich in der Ministrantenkutte. Solange der Herr Pfarrer das „Allerheiligste“ trug, bimmelte ich mit meinem Glöckchen. Es war auch für mich ein Gefühl der Würde, wenn die Leute, die uns begegneten, niederknieten und sich bekreuzigten.
Für Pfarrer, Ministranten und Totengräber war Hochsaison. So kam es, dass an einem Tag zwei Beerdigungen stattfanden. Wir Ministranten hatten dann bis umzwei Uhr schulfrei. Zum „Bsängnis“ wurden immer die Träger und Ministranten eingeladen und im Nebenzimmer des Gasthauses abseits der Verwandtschaft versorgt. Als Leichenträger wurden – ein alter Brauch – die nächsten vier Nachbarn gebeten. Auch sie speisten im Nebenzimmer.
Das erste Bsängnis war in der Brauerei Kirn. Ein üppiges Essen: Weißwurst, Schweinebraten, Kartoffelsalat, Getränke. Die älteren Ministranten tranken zum Teil schon Bier, die jüngeren Sprudel. Ich hatte noch nie einen Schluck Gerstensaft getrunken. Dass Schüler Bier trinken, wäre in meiner Familie undenkbar gewesen. Nach dem Essen saß ich bei meinem Glas Mineralwasser. Zwischendurch kam meistens der Mesner als unser Vorgesetzter und kümmerte sich darum, dass auch wir versorgt wurden. Er setzte sich neben mich, zog aus seinem Glaskrug einen kräftigen Schluck, schob ihn mir hin: „Du Schleimscheißer, du trinkst kein Bier, was bist du denn für a Kerl!“ Er drängte weiter, ich nippte, mich schüttelte der bittere Geschmack. Die anderen lachten.
Das Spiel der Verführung ging weiter. Mein Schluck wurde immer größer. Ein nie gekanntes wohliges Gefühl der Schwerelosigkeit beschwingte mich. Plötzlich mundete mir das Gesöff. Wir gingen in glückseliger Stimmung zum „Oberen Wirt“. Der nächste Leichenschmaus. Selbstsicher bestellte ich eine Halbe. Die Welt wurde immer schöner. Die verrauchte Wanduhr zeigte dreiviertel zwei. Ichmusste zur Schule. Die ausgetretenen Steintreppen des Ausgangs hinunter fühlte ich mich unsicher. Der große schmiedeeiserne Adler am Giebel des Wirtshauses hing schief. Ich fühlte mich übel, ging aber pflichtbesessen trotzdem zur Schule und setzte mich auf meinen Platz.

Der Unterricht begann. Ich stand auf und wollte fragen, ob ich austreten könne. Dazu kam es nicht mehr. Explosiv schoss mein Leichenschmaus in hohem Bogen über die Vorderleute. Die Lehrerin erschien doppelt. Sie merkte erst jetzt, dass mit mir etwas nicht in Ordnung war. Mir war alles wurstegal, mir war sterbensübel.Gallenbitter im Mund würgte und würgte es mich. Nach der ersten Schrecksekunde schickte mich Fräulein Frei zum Bach: „Wasch dich ab.“ Ich wankte durch den Schulhof. Alles begann sich zu drehen wie im Karussell. Mühsam hangelte ich mich an Hockenbaurs Staketenzaun entlang in Richtung Bächle. Im flachen Wasser würgten sich bei jedem Bücken die Reste des Schmauses heraus. Ich fiel bäuchlings ins Wasser. Wie in Trance ging ich dann in die Schule zurück.
Von weither hörte ich die Lehrerin fragen: „Wer bringt den Matthias heim?“ Von da an verlor ich das Bewusstsein, wie lange ich in den Armen des Todes lag, weiß ich nicht, spürte nur brennende Schmerzen, die immer heftiger wurden. Ganz langsam kam ich zu mir, öffnete apathisch die Augen und brauchte lange, bis ich meine Umgebung wahrnahm. Ich lag in der „guten Stube“ auf dem neuen Sofa. Meine Mutter drosch mit ihren letzten Kräften immer noch auf mich ein. Sie schimpfte keuchend: „Mit dir muss man sich schämen, das ganze Dorf redet von dir, der Mesner hat’s uns schon erzählt, dass du dich sinnlos besoffen hast.“ Dies alles nahm kein Ende mehr. Mir war auch alles egal. Allmählich setzte ich mich auf. In den Mulden des ausgewaschenen Fußbodens standen Pfützen. Der bunte Fleckerlesteppich war verspien, das rote Sofa und ich waren nass und schmutzig.Meine Mutter holte eine alte Hose und warf sie mir vor die Füße. „Geh en Bach naus und wäsch di, dann machst, dass en’s Bett kommst!“ Frierend und fröstelnd entzog ich mich dem Gewitterhagel. Ich habe in meinem ganzen Leben die Einsamkeit und wohlige Wärme des Bettes noch nie so intensiv empfunden wie an diesem Abend.
Für mich kam eine lange Eisperiode. Als Saufbruder passte man nicht mehr in eine solch brave Familie. Meine Mutter gab mir nicht einmal mehr Arbeit – höchster Grad der Verachtung.
Der erste Weckruf riss mich wie ein Blitz aus dem Bett. Ich war schon lange vor dem Läuten in der Kirche. Nur weg von den Menschen. „Jetzt wird mir der Hochwürden geharnischt die Leviten lesen.“ Banges Warten. Aus dem Verlies des Glockenhauses trat ich erst heraus, als der Mesner den Pfarrer schon anzog. Wie ein getaufter Pudel schlich ich mich in die Sakristei. Ich wollte aus Verlegenheit etwas tun, wusste aber nicht was und erwartete ein Donnerwetter. Der Pfarrer im grünen Messgewand drehte sich um, ging auf mich zu, strich mir über meine Borsten. Sein sonst so ernstes Gesicht war milde. „Gell Bua, dr Mesner hat dir gestern einen Rausch eingefüllt – da kannst du wirklich nichts dafür.“ Zum Mesner gewandt: „Herr Weber, was sie getan haben, ist unverantwortlich. Wenn sie sich vollaufen lassen, ist das ihre Sache. Für die Kinder trage ich die Verantwortung.“ Der hagere glatzköpfige Mesner wurde kleiner, ich wurde größer.

Zelle 25

Vorwort

Wie soll sich ein 69-jähriger gescheiterter Unternehmer wehren, wenn ihm durch unterlassene Behördenaufsicht die ganze Existenz vernichtet wird, wenn 4,5 Millionen Deutsche Mark in einer Stunde buchstäblich den Bach hinuntergehen, die ganze Familie über Nacht verarmt und obdachlos dasteht, Freunde zu Feinden werden, Nachbarn zu misstrauischen Fremden?

Wie kann man sich wehren, wenn man 13 Jahre lang immer wieder zugesichert bekommt, dass man im Recht sei, man in dieser Zeit keinen Pfennig Entschädigung erhält, sondern im Gegenteil durch lächerliche Anklagen blockiert und noch tiefer gestoßen wird?

Was ist zu tun, wenn man als 69-jähriger Unternehmer und bis dato unbescholten plötzlich vor Gericht steht, des Diebstahls beschuldigt wird und in den Knast wandert?

Man kann nicht mit einem Plakat durch Dorf und Stadt ziehen, um seine Unschuld zu beteuern.  Aber man kann ein Buch schreiben, das den Hergang verständlich macht und die Hintergründe beleuchtet.

Ein Einzelfall? Sicher nicht, wie sich zeigen wird. Jedoch hat nicht jeder nach all den demütigenden Strapazen noch den Mut und die Energie, sein unfassbares Schicksal öffentlich darzustellen.

Während sich Verlage mit astronomischen Summen um die Memoiren korrupter Politiker oder oft geistloser Sportler raufen, interessieren sie sich nicht für gescheiterte Existenzen.

In meinem Drang, Tabuthemen zu publizieren, möchte ich einer möglichst breiten Öffentlichkeit nahebringen, dass auch unsere Demokratie brutal sein kann. Mit dieser Verzweiflung will ich die scheinheiligen Politiker niederschreien, die die Ungerechtigkeit in den hintersten Winkeln der Erde anprangern, während in ihrem Land die eigenen „Kinder“ an Korruption und Brutalität verrecken!

Die nachfolgende Geschichte meines Großvaters wurde von mir nach den Aufzeichnungen meines Vaters ergänzt, aufgearbeitet und veröffentlicht.