Treffen mit Stefan am 29.09.2013
Nach einigen Rücksprachen traf ich mich heute das erste Mal live mit Stefan.
Da ich beruflich zurzeit extrem eingespannt bin, hatten wir Westerland als Treffpunkt vereinbart. Stefans Eltern setzten ihn in Hamburg-Altona in den Zug und ich holte ihn in Westerland ab.
Dann war es soweit, ich stand in Westerland an Gleis 2 und wartete auf die Nord-Ostsee-Bahn. Endlich traf sie ein und da kam Stefan schon.
Ein fast erwachsen wirkendes Kind im Alter von 11 Jahren. Sein Gesicht markant, sein Wesen wirkt distanziert. Ich ging auf ihn zu und sagte: “Hallo Stefan.” Er erwiderte trocken: “Hallo Martin.”
Ich wollte ihn eigentlich umarmen, aber mein Kopf blockierte in diesem Moment. So streckte ich ihm nur meine Hand entgegen. Dann fragte ich ihn, ob wir hier im Entree etwas trinken wollen und was er möchte. Er antwortete schroff: “Mir reicht ein Wasser.” Ich ging an die Theke und bestellte sein Wasser und mir einen Karamell-Macchiato. Der charismatische schwule Kellner, den ich täglich sehe, weil ich immer mir hier jeden Morgen noch einen Kaffee hole, stellte sofort fest: “Du siehst angespannt aus.” Ich überspielte diese Bemerkung, nahm die Getränke und ging zurück zu Stefan.
Nüchtern und sachlich kam er sofort auf den Punkt und fragte mich, ob er nun beim Tod seiner Mutter dabei sein dürfe. Ich sagte: “Stefan, ich habe mit mehreren Experten gesprochen, sie sind alle der Meinung, dass es besser ist, wenn Du nicht dabei bist. Wir denken auch, dass dies für Deine Mutter eine zusätzliche extreme Belastung wäre, wenn Du dabei bist.” Stefan schrie mich an: “Es gehe immer nur um andere, es geht nie um mich.” Die nebenan sitzenden Gäste des Cafés schauten uns an, mir großen Fragezeichen in den Gesichtern.
Ich sagte zu Stefan: “Lass uns darüber reden. Komm, wir gehen ans Meer.” Wir ließen unsere Getränke und gingen an den Westerlander Strand, der witterungsbedingt fast leer war.
Stefan begann das Gespräch und sagte: “Martin, ich verliere das Wichtigste in meinem Leben, meine Mama, entschuldige, dass ich Dich angeschrien habe. Ich habe seit Jahren meine Freunde verloren, in der Schule mag niemand etwas mit mir zu tun haben, denn sie können meine schlechte Laune nicht verstehen. Dieses Mitleid, was sie mir geben, hilft mir nicht, ich will kein Mitleid, ich will nur einfach über meine Gefühle sprechen.” Ich sagte zu Stefan, dass ich ihn gut verstehe. Wir kamen dann wieder auf das Thema Todestag. Er fragte nochmals, ob meine Entscheidung so bleibe. “Ja Stefan”, meinte ich, “Zu Deinem Schutz und für Deine Mutter, denn ich glaube, dass ich mich in diesem Moment nicht um Dich kümmern kann. Es wäre unverantwortlich, Dich den geplanten Tod Deiner Mama mitverfolgen zu lassen.”
Stefan widersprach sogleich und meinte, er wolle sich doch noch verabschieden.
Dann schlug ich ihm folgenden Deal vor: “Ich werde Deine Mama allein begleiten, verspreche Dir aber, dass Du Dich nach der Überführung ihres Leichnams von ihr im Leichenhaus so lange verabschieden kannst, wie Du möchtest. Was hältst du davon?” Stefan fragte sofort: “Versprichst Du mir das?” “Ja”, sagte ich, “versprochen.” Stefan fing an zu weinen, ihm wurde gerade bewusst, dass es unumgänglich ist. In dem Moment nahm ich ihn in den Arm und er ließ sich fallen. Mir liefen selbst die Tränen: dieser unendliche Schmerz eines 11-jährigen Jungen, der weiß, was passieren wird.
Gut, dass es regnete, so sah er mein verheultes Gesicht nicht. Meine Knie waren butterweich.
Ich hatte Angst, das alles nicht durchzustehen. Ich wollte das Projekt, ich wollte sachlich drüber berichten. Jetzt war ich mittendrin, wirklich mittendrin. Ich ließ das dramatische Schicksal an mich heran. Stefan erzählte mir seine Geschichte aus der Sicht eines 11-Jährigen.
Es ist grausam, ob ich diese jemals beschreiben kann, weiß ich nicht. Es ist eine Familientragödie.
Was ich in diesem Moment dachte? Ich dachte an meine Kindheit, wie undenkbar sorgenfrei ich aufgewachsen bin. Ohne Probleme, mein größtes Problem bestand dann, wenn ich wieder mal beim Schwarzfischen erwischt worden war. Mein Gott, welch eine traumhafte Kindheit ich hatte, das wurde mir in diesem Moment bewusster denn je.
Die Stunden am Strand verflogen. Mittlerweile hatte ich eine vertraute Beziehung zu Stefan. Dies bestärkte mich darin, dass der Austausch mit ihm wichtig ist. Wir saßen noch eine Weile stumm im nassen Sand am Strand. Ich war bis auf die Haut durchnässt.
Ich dachte an alles und nichts. Ich versuchte, zu beten. Warum eigentlich ruft man immer nach einem Gott, wenn es Probleme gibt? Eigentlich bin ich doch gar nicht gläubig. Aber ich fand auch in diesem Moment keinen Kontakt zu Gott. Und so fing ich an, ein Zwiegespräch in Gedanken zu führen.
Gott, sollte es Dich geben, dann höre mir zu. Du hast die Kindheit dieses Jungen zerstört. Erbarmungslos und mit aller Gewalt, die existieren kann. Warum? Wählst Du Deine Opfer wahllos aus? Was bist Du für ein Gott, der das alles zulässt? Aber warum unterhalte ich mich mit Dir? Ich glaube, ich lebe besser mit dem Gefühl, dass es keinen Gott gibt. Alles ist Schicksal, willkürlich schlägt es zu, manchmal mehr, manchmal weniger.
Stefan riss mich aus meinen Gedanken und sagte, sein Zug gehe gleich. Wir standen auf und gingen zurück zum Bahnhof Westerland. Ich stieg mit in den Zug ein, da ich nach Hause fahren wollte. Deshalb musste ich versuchen, schnell umzustellen und den Kopf freizubekommen.
Ich wollte und ich werde meine Erlebnisse nicht mit nach Hause nehmen, zumindest werde ich immer versuchen, dies zu überspielen.
Wir stiegen zusammen in die Nord-Ostsee-Bahn ein. Stefan fragte mich: “Welche Musik hörst Du?” Ich antwortete: “Alles von Klassik bis Rock.” Er fragte genauer nach und wollte nicht glauben, dass ich z. B. Sido höre. Meine Frage, was daran ungewöhnlich sei, beantwortete er so: “Nichts, mich überrascht nur, dass Du in Deinem Alter so etwas hörst? “In meinem Alter?”, fragte ich nach. “Ja, Du bist doch schon ziemlich alt. “Jetzt konnte ich mir ein Lächeln nicht mehr verdrücken. Klar, aus der Sicht eines 11-Jährigen ist man mit 39 Jahren alt, dachte ich mir.
Ich bot Stefan an, etwas mir zusammen anzuhören, und er nahm dies gerne an. Ich spürte förmlich, wie froh er war, einmal über etwas anderes zu sprechen als über den Tod. Ich gab ihm einen meiner Ohrstöpsel und er hörte aus dem Album “Beste” von Sido die Songs “1000 Fragen” und “Danke”.
Die Songs passten wie die Faust aufs Auge zu uns, das meinte Stefan zwischendurch und ich bestätige ihm das. Wir schauten uns beide die ganze Zeit an, als würden wir die letzten Stunden nochmals Revue passieren lassen. Einige Stationen weiter verabschiedete ich mich von Stefan, diesmal nicht mit einem kalten Händedruck, sondern ich umarmte ihn. Er sagte nur leise: “Danke Martin.”
Dann fragte er, wann wir uns wiedersehen. “Bald Stefan, schreib mir bitte, wenn Du in Altona angekommen bist”, meinte ich. “Ok”, antwortete Stefan.
Ich stieg jetzt aus und sah, wie Stefan mir am Fenster nachwinkte …
Was für ein Tag, ich musste zunächst einmal mit mir und der Welt klarkommen. Abends kam die Facebook-Nachricht, dass er gut angekommen ist.