Mein erster Besuch bei einer Todgeweihten:
Heute, am 04.09., fuhr ich zum ersten Mal zu meiner Todgeweihten nach Hamburg. Ein komisches Gefühl hatte ich schon dabei. Ich war gerade in die Nord-Ostsee-Bahn gestiegen und mir war kotzübel.
Wie fange ich das Gespräch an? Was empfinde ich dabei? Ich glaubte in dem Moment, dass es eigentlich nur Mitleid sein könnte.
Mir wurde gerade bewusst, wie gut es mir geht. Nur weiß man dies selbst meist nicht wirlich zu schätzen.
Als ich über den Nord-Ostsee-Kanal fuhr und die geradezu unendliche geradlinige Weite sah, kippte meine Stimmung ins Melancholische, ich versuchte, meine Gedanken an das Thema Tod zu verdrängen, es klappte aber nicht. Ich hatte das Projekt gewollt und es bekommen, also sollte ich jetzt nicht in Selbstmitleid verfallen, nur weil ich über ein Thema schreibe, was selbst für mich ein Tabu ist.
Am Hauptbahnhof angekommen, nahm ich mir ein Taxi und fuhr direkt zu Caroline und Ihrer Familie, die ich ja bislang nur online und über Telefonkontakte kannte.
Wenige Minuten vor meiner Akunft rief Caroline an und bat mich, sie in der Stadt zu treffen. Sie hatte es sich anders überlegt und wollte alleine, ohne Familie, mit mir sprechen.
Wir vereinbarten das Lokal “Lust auf Italien” in der Großen Elbstrasse in Hamburg.
Kurze Zeit darauf trafen wir uns dort. Ich erkannte sie sofort vor dem Eingang und war überrascht, wie gut sie noch aussieht, obwohl sie im Endstadium Krebs hat.
Wir begrüßten uns distanziert, ja fast kühl. Die Last auf Ihren Schultern war jetzt förmlich spürbar. Das war also die Frau, die in den Tod gehen wird.
Ich versuchte mit aller mir gegebenen Gewalt, meinen Kopf einzuschalten und meine Gedanken zu neutralisieren. Caroline wirkte trotz allem so stark, so entschlossen.
Irgendwie fanden wir nicht den richtigen Einstieg in das Gespräch, ich schlug ihr vor, dass jeder von uns 10 Fragen an den anderen stellt. Das hilft oft in diesen Situationen.
Sie stimmte zu und sagte sofort, das sie beginnen wolle. Ich grinste und sagte “gerne”.
Die erste Frage, die sie mir stellte, überraschte mich total, ich hatte niemals damit gerechnet.
Sie fragte mich: “Bist Du gläubig?”
Ich stutzte und antwortete ihr: “Nein, ich bin nicht gläubig.” Sie lächelte und meinte, sie sei sehr gläubig, auch wenn sie mit ihrem geplanten Freitod nicht der Norm der Katholiken entspräche. “Ich bin seid vielen Jahren tief gläubig”, sagte sie.
Nun durfte ich meine Frage stellen, die dann lautete: “Warum willst Du sterben?”
Sie fuhr mich in gleicher Sekunde forsch an und sagte, dass von Wollen nicht die Rede sei.
Meine Worte waren falsch gewählt gewesen, ich merkte sofort, dass es notwendig war, viel sensibler zu fragen. Ich redete mich heraus und sagte, dass ich natürlich wissen wolle, warum sie diesen Weg gehen möchte.
Sie sagte: “Ich kann und ich will es meiner Familie nicht zumuten, mich leiden und sterben zu sehen. Ich hatte bislang mein ganzes Leben selbst in der Hand, ich komme aus gutem Haus, hatte immer viel Geld. Ich will den letzten Schritt selbst bestimmen. So, wie ich mein ganzes Leben selbst bestimmt und gestaltet habe.”
Nach nur 40 Minuten beendeten wir das Gespräch. Ich merkte, wie erschöpft sie auf einmal war. Ihr Gesicht wirkte nach den wenigen Minuten total müde, ihre Stimme war rau.
Der Grundstein ist gelegt, aber es wird noch viel Zeit benötigen, bis wir ein vertrautes Verhältnis haben und das Intimste der Welt gemeinsam durchstehen können: den TOD.